Ganz klar: Eine nette, gut erzählte, kleine Geschichte!
Arzt, mit einem lebensrettenden Mittelchen,
muß irgendwo schnellstens hin, aber in der Poststation gibt es keine
Pferde und das irgendwo in der russischen Taiga, oder sonstwo in der
Gegend. Nun, Rettung ist nah und das in
Form eines Schneemobils, von fünfzig kleinen Pferdchen gezogen und dem
Kutscher.
„Verstehen Sie denn nicht, ich muß da unbedingt hin!“, rief
Doktor Garin mit zorniger Geste. „Patienten warten auf mich. Kranke Menschen!
Dort herrscht eine Epidemie! Sagt ihnen das Wort etwas?“
„Selbstverständlich verstehe ich Sie, Verehrtester, wie
könnte ich nicht?“, erwiderte der Stationsvorsteher, den Oberkörper servil
vornübergebeugt, die Fäuste gegen das Wams aus Dachspels gepresst. „Sie müssen
dahin, das verstehe ich gut. Die Sache ist nur: Ich habe keine Pferde und
kriege vor morgen auch keine mehr rein!“
„Keine Pferde, wie kann das sein?“, empörte sich Garin. „Was
soll eine Station ohne Pferde für einen Sinn haben?“ (Seite 5)
Schon auf der ersten Seite zieht Sorokin seine Leser hinein
in eine Welt und Sprache, die an die Sprache und Welten der großen alten
russischen erzählenden Meister erinnert
und genauso klingt. „Eine Schönheit war
diese Müllerin nicht, doch ihre Fraulichkeit nahm ihn ein. Es war angenehm, mit
ihr zu plaudern.“ (Seite 55)
Irgendwie ist unser Arzt dann doch unterwegs und
wetterbedingte Schwierigkeiten verzögern das Vorrankommen, man macht Stationen
und Rast und so erfahren wir vieles wieder einmal über die russische Seele, die
Menschen, und die Gegend. Wir sind aber nicht bei Dostojewski, Tolstoi, oder
Tschechow, auch wenn sich alles so anfühlt. Wir wissen noch nicht einmal, in
welcher Zeit dieser Roman handelt: Man stelle sich vor: fünfzig kleine
Pferdchen vor einem Schneemobil! Menschen die zu Zombies werden, wenn die
Doktorchens Mittel nicht bekommen!
„Auf dem ersten Kanal liefen Nachrichten; von der
Rekonstruktion des Automobilwerks in Schiguli war die Rede und von den neuen
einsitzigen Kraftfahrzeugen mit Kartoffelantrieb. Die Müllerin schaltete um auf
Kanal 2. Da lief der Werktagsgottesdienst.“ (Seite 64)
Wann man ist, oder wo man ist, spielt aber in dieser irren
und atmosphärisch stimmigen Geschichte nicht die große Rolle und es macht Spaß,
sie zu lesen, und offensichtlich hat sich Sorokin auch seinen Spaß beim
Schreiben gemacht, was ihn zu recht zu einer „Kultfigur“, wie Spiegel online
schreibt, macht. Darüber hinaus gilt Sorokin
als „einer der schärfsten Kritiker der politischen Eliten Rußlands und so
gesehen, spiegelt dieser kleine Roman durchaus den Zustand seiner Menschen,
zwischen Tradition und Moderne, Vergangenheit und Zukunft.
Dennoch bleibt eine kleine Unbestimmtheit, ein Gefühl,
welches ich beim Lesen hatte. Sorokin ist kein Tolstoi, Tschechow oder
Dostojewski; vielleicht aber einer der Besten von dem, was die heutige russische
Literatur zu bieten vermag.
Vladimir Sorokin: Der Schneesturm
Aus dem Russischen von Andreas Tretner
© 2012, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
Umschlaggestaltung und –motiv: Rudolf Linn, Köln