Montag, 29. Juli 2013

Jón Kalman Stefánsson: Himmel und Hölle


„Lesen kann tödlich sein“, erst recht, im Irgendwo von Island.  Dabei fällt mir gerade ein: Ich habe keine Ahnung von Island, seinen Menschen, seiner Kultur.   Ich untersuche gerade meine zerdrückten Zigarettenschachteln nach einem weiteren passenden Spruch, der sich auf das Lesen ummünzen ließe, denn in diesem Roman gibt es die verschiedensten Isländer und Isländerinnen, die entweder Lesen, oder nicht Lesen, und ein Buch mit Gedichten von Milton, die ein isländischer Schullehrer, oder war es ein Pastor, ins Isländisch übersetzt hatte.

Das mit dem Lesen und dem Buch ist aber nicht allein der Inhalt dieser Geschichte, sondern mehr etwas Anekdotisches, durchaus von der Erzählerfigur augenzwinkernd und am Rand erzählt, so als wolle er vermitteln, in Island wird auch gelesen, gibt es Bücher und werden auch welche geschrieben und die Menschen haben eine Kultur.

„Wir wollen von denen erzählen, die in unseren Tagen gelebt haben, vor mehr als hundert Jahren, und die für dich kaum mehr sind als Namen auf schiefen Kreuzen und geborstenen Grabsteinen. Leben und Erinnerungen, die nach dem unerbittlichen Gesetz der Zeit ausgelöscht wurden. Genau das wollen wir ändern. Unsere Worte sind eine Art Lebensretter in unermüdlichem Einsatz, sie müssen vergangene Geschehnisse und erloschene Leben dem Schwarzen Loch des Vergessens entreißen, was keine geringe Aufgabe ist. Gern dürfen sie unterwegs ein paar Antworten finden und uns hier wegholen, ehe es zu spät ist. Aber lassen wir’s vorerst dabei, wir schicken die Worte an dich weiter, diese ratlosen, zerstreuten Lebensretter, die sich ihres Auftrags gar nicht sicher sind – sämtliche Kompasse spielen verrückt, Landkarten sind zerfleddert oder veraltet -, aber nimm sie trotzdem in Empfang. Und dann sehen wir, was passiert.“ (Seite 7)

So geleitet, befinden wir uns also in der Zeit kurz vor dem ausgehenden 19. Jahrhundert auf Island, in einem Dorf, genauer gesagt, einem Fischerdorf, was sonst ,auf Island der damaligen Zeit. Es gab schon Gesetze, die das Fischen regeln. Um drei Uhr Morgens erschallt ein Trompetensignal, auf das alle Fischer gewartet haben, denn vorher dürfen sie in ihren offenen Särgen nicht hinaus auf See.  Es ist eine fremdartige Welt, die uns der Erzähler da näher bringt und die darin handelnden Menschen erscheinen eigenartig. Und dennoch gibt es Verbindendes und Vertrautes.

Da gibt es nun den Jungen. Er dürfte so vierzehn, fünfzehn Jahre alt sein.  Er arbeitet mit auf einem Sechsruderer.  Angeleitet wird er von Bárdur (die Schreibweise des Namens habe ich mal ähnlich dargestellt; ich weiß jetzt nicht wie ich meinem PC die Originalschreibweise beibringen kann). 

Bárdur ist so was wie eine Vaterersatzfigur für den Jungen, dessen Vater ertrunken ist. Kein Isländer hat damals Schwimmen gelernt.  So geht das Ertrinken schneller.  Bárdur hatte einen Freund mit vierhundert Büchern, von dem er sich immer Eines zum Lesen auslieh. Und gerade las Bárdur  Gedichte von Milton und lernte Eines auswendig, damit er es dem Jungen, dann auf See, während der langen Wartezeiten in der Kälte, vortragen konnte.

Übrigens ist dieser Freund von Bárdur mit den vierhundert Büchern blind beim Lesen geworden.  Womit ich wieder bei den Sprüchen meiner Zigarettenschachteln wäre und daran erinnern möchte, daß Lesen der Gesundheit schaden könnte.  Es gibt auch immer wieder einige nette Erzählerkommentare über den Sinn und Unsinn des Lesens und von Büchern überhaupt.  Damit kann ich jetzt auch mal was über den Erzähler einfügen.

Die Erzählerfigur ist hier eine ganz ungewöhnliche, eine recht moderne Form: Sie ist nicht eindeutig!  Mal haben wir den auktorialen Erzähler, mal den außen stehenden Erzähler und mal Einen, der den Leser an die Hand nimmt. Und es entsteht zuweilen der Eindruck, der Erzähler könnte mittendrin gewesen sein. Ein geschicktes und interessantes Stilmittel des Autors. Ein guter Trick um den Leser und die Leserin zu fesseln.

Lesen kann tödlich sein! Für Bárdur war es genau das. Bevor das Trompetensignal in der Nacht alle Fischer des Dorfes in die Boote zum Auslaufen rief, lernte er gerade das Gedicht von Milton auswendig. Und bevor er die Hütte verließ, las er es nochmals, damit er es nicht vergaß. Dabei vergaß er seinen Anorak.

Es gibt zwei große Teile in diesem Roman, wie der Titel schon ahnen läßt.  Im ersten Teil sind wir in dem Dorf  und warten auf das Signal zum Auslaufen und dann beim Fischen auf See.  Und das wird zum langen Sterben von Bárdur, der erfrieren muß, weil er ein Gedicht auswendig gelernt hat und der Junge muß dabei zusehen.

Im zweitel Teil entschließt sich der Junge, sich das Leben zu nehmen. Aber vorher will er das Buch von Milton seinem Besitzer, dem blinden Kapitän zurückbringen und dazu muß er in ein anderes Dorf, ein, zwei Tagesmärsche weit entfernt.

„Hölle ist, nicht zu wissen, ob wir lebendig oder tot sind“ (Seite 101)

Nun scheint Island zwar nicht gerade übervoll von Menschen zu sein, aber das Zurückbringen eines Buches, bringt dann doch so manche Schwierigkeiten und merkwürdige Begebenheiten mit sich. Und da gibt es schon auch Isländer, die auf einer Lesung von Charles Dickens in London gewesen sein können, oder junge Zimmermädchen in einem Hotel, die einen fünfunddreißig Jahre älteren reichen Knacker geheiratet, dann überlebt und beerbt haben.  Und so mancher Seefahrer aus dem Süden hat seine braunen Augen auf Island gelassen.  

Jedenfalls, ich nehme mal das Ende vorweg: Der Junge kommt irgendwie wieder ins Leben zurück und es gibt ein wunderschönes Happy End, auch wenn sich alle das Maul darüber zerreißen mögen, ob nun auf Island oder in Pusemukel.  

Und um nochmals auf die Gefahren des Lesens zurück zu kommen: In diesem Roman ist es so, daß die Leser die besseren Menschen und Figuren gewesen sind.

Eindrucksvoll, stimmungsvoll, ergreifend.


Jón Kalman Stefánsson: Himmel und Hölle

Aus dem Isländischen übersetzt von Karl-Ludwig Wetzig
© 2009 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Umschlaggestaltung: Stefan Schmid Design, Stuttgart unter Verwendung eines Fotos von © Paul Nicklen, getty images