Mittwoch, 28. November 2012

Alex Capus: Eine Frage der Zeit


Hier reizte mich die Story: Ostfriesen aus Papenburg bauen ein Schiff und als es fertig ist, zerlegen sie es vor dem Stapellauf und packen es in fünftausend Holzkisten und verschiffen die nach Zentralafrika, also nicht ganz Zentralafrika, an den Tanganjikasee,  südlich des Kilimandscharo, um es wieder zusammenzubauen.  Das machen diese drei Ostfriesen, die keine Ostfriesen sind, sondern Emsländer. 

So war er halt, der Kaiser Wilhelm II. , der Krüppel, mit dem steifen Arm.   

Dieses Schiff wieder zusammen zu bauen, dauert über ein Jahr und für ein Jahr nun landen diese drei Emsländer, die immer für Ostfriesen gehalten werden in Deutsch-Ostafrika, während der erste Weltkrieg ausbricht.

Parallel zu dem authentischen Hintergrund dieser Geschichte von diesen Ostfriesen und dem Zusammenbau und dem Leben in Deutsch-Ostafrika, erzählt Alex Capus die Geschichte eines Briten, einem Oberstleutnant, der irgendwann von Winston Churchill beauftragt wird, zwei zu Kanonenboote umgebaute Ausflugsschiffe über den Landweg an den Tanganjikasee zu bringen. Diese Oberstleutnant hat es in sich. Er ist ein Aufschneider, der keine Freunde hat. Wider erwarten kommt er an Ziel.

Amüsant und unterhaltend liest sich das alles,  ein netter kleiner Roman.  Die Darstellung und Eigenschaften wie „feiner Humor mit illusionsloser Klarheit,“ die „raffiniert aufgebaute Spannung mit sensibler Charakterzeichnung“, die der Klappentext verspricht allerdings, oder gar die Beschreibung „wie eine Welt vermeintlicher Gewißheiten aus den Fugen gerät“ ist für meinen Geschmack eher ziemlich bieder rübergekommen.  Vielleicht ist das ja gewollt: Wann war noch mal die Zeit des Biedermeiers? Jedenfalls „klingt“ dieser Roman für mich, beim lesen,  so ziemlich nach Biedermeier.


Alex Capus: Eine Frage der Zeit

© 2007 by Albrecht Knaus Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: semper smile Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: AKG-Images


Freitag, 23. November 2012

Oliver Leistert, Theo Röhle (Hg): Generation Facebook


Ein Buch, von dem mir beim Lesen übel geworden ist, das mich tief erschüttert hat, Entsetzen mich packte und mein Leben wenigstens teilweise, wie ich hoffe, veränderte, war Generation Facebook aus dem Transcript Verlag Bielefeld, 2011 von Oliver Leistert und Theo Röhle herausgegeben.  Als erste Reaktion habe ich versucht, bei facebook den Stecker zu ziehen, was nebenbei gesagt nicht so ohne weiteres möglich ist: Facebook vergißt nie!

Leistert und Röhle haben hier  aktuelle Veröffentlichungen von verschiedenen Wissenschaftlern zusammengestellt, die sich auf verschiedene Weise zum Thema Web 2.0, facebook und vergleichbare Dienste geäußert haben und auf diesem Gebiet jahrelange Beobachtungen, Untersuchungen und Forschungen gemacht haben.

Heraus kam dabei eine vernichtende und erschütternde Bilanz , ein ziemlich genauer Einblick, was diese Dienste tun und wollen, was Nutzer und Nutzerinnen des Web 2.0 tun und wollen und welche Gefahren oder Möglichkeiten dadurch entstehen. Rigoros wird dabei mit Mythen, Vorstellungen und Hoffnungen aufgeräumt. Die im wesentlichen wissenschaftlichen Berichte und Texte können allerdings nicht unbedingt von Jedermann sofort verstanden werden. Der Versuch aber würde sich lohnen. Es sind fundierte, analytische und sachliche Texte, belegt durch teilweise lange Literaturhinweise, die zeigen, wie vielfältig und interdisziplinär über dieser Phänomen auch wissenschaftlich nachgedacht und geforscht wird.

Eines habe die meisten Texte und Kritiker gemeinsam, eine unterschwellige Forderung und Hoffnung: Das Web 2.0 besser, bewußter und freier zu machen, verbunden mit einigen durchaus visionären Forderungen, Möglichkeiten und Ausblicken.

Also Stecker ziehen ist nicht unbedingt der bessere Weg.


Oliver Leistert, Theo Röhle (Hg.): Generation Facebook

©  2011 transcript Verlag, Bielefeld
Umschlaggestaltung: Kordula Röckhaus, Bielefeld





Samstag, 17. November 2012

Javier Marias: Morgen in der Schlacht denk an mich


Schon mal darüber nachgedacht, wie es wohl wäre, wenn der Mensch mit dem man gerade zum ersten mal  Sex haben will, sich kurz auf die Seite dreht und dann so ganz einfach stirbt? Man hat sich vielleicht nur zwei oder dreimal vorher getroffen, es gab gerade noch ein kleines Abendessen, man wartete darauf, daß das Kleinkind müde wurde und hat es ins Bett gebracht? Hemd, Bluse, BH ausgezogen.... und dann legt sich das Gegenüber kurz hin mit einem Lächeln, um nie wieder aufzustehen? Wie wäre das? In dem Roman ‚Morgen in der Schlacht denk an mich’ hat Javier Marias darüber geschrieben. Ein vierzig bis fünfzig jähriger Schriftsteller lernt eine verheiratete Frau mit einem Kleinkind kennen und als der Ehemann in London weilt, trifft man sich in deren Wohnung, ist mit der Frau und dem Kind zusammen, sieht fern, das Kind schläft ein und dann geht man ins Schlafzimmer.

Nun reagiert dieser Mann und der Held des Romans, dem so etwas widerfahren ist,  nicht wie man es vielleicht erwarten oder annehmen würde: Krankenwagen oder Polizei anrufen oder so etwas. Und das Lesen dieses Romans wird zu einer langen Reise durch seine Gedanken, den folgenden Handlungen in den Wochen danach und den sich daraus ergebenden Begegnungen.  Die Begegnung dann mit dem König von Spanien ist eine davon, für den Marias herrliche Namen erfindet, denn ich kann mir nicht vorstellen, daß die Spanier ihren König Only the Lonely, den Einzigen, den Einsiedler, Alleinigen, Solus, Only You, Solitär nennen, nicht alles auf einmal, den dieser Held in einer Privataudienz mit dem Vater der Frau trifft,  die ein paar Tage zuvor neben ihm gestorben war, der aber nicht weiß, das dieser in der Nacht des Todes bei seiner Tochter war. Die Putzfrau des Königs von Spanien hat dabei einen Auftritt von der Länge, die man als ältere Frau benötigt, um von einem Ende des Audienzzimmers zum anderen braucht, wenn man den Putzwagen hinter sich her zieht, in Gedanken ist, und den König und seine Gäste gar nicht bemerkt. Okay, sie wird schneller, als sie diese dann bemerkt und der Solitär bedenkt sie mit einem kurzen freundlichen Nicken. Natürlich kommt es auch zu einer Begegnung mit dem Ehemann der Verstorbenen; Moment, es waren mehrere Begegnungen und natürlich ist die letzte dann der Showdown, überraschend, sehr überraschend.

Ausgesprochen kultiviert hat Marias in diesem Roman den langen Satz! Ich habe noch nie so lange Sätze gelesen, mal von dem Satz im Ulysses abgesehen, bei dem auf Satzzeichen und Leerstellen gänzlich verzichtet wurde, was man aber nicht vergleichen kann. Marias lange Sätze sind aber folgerichtig. Wer denkt schon, wenn er denkt, mit Komma und Punkt. Ihnen zu folgen ist darum nicht das geringste Problem.  Etwas, das zuweilen vielleicht, aber auch nur vielleicht, etwas strapaziert, ist das regelmäßig Wiederkehrende. Aber auch das ist notwendig, denn, wer denkt nicht mehrmals über die eine oder andere Sache nach.

‚Das Zutagetreten von Angst bringt den, der angst macht oder dazu imstande ist, auf bestimmte Gedanken, Vorbeugung gegen das, was noch nicht geschehen ist, ruft das Ergebnis auf den Plan, Verdacht entscheidet über das, was noch nicht feststand, und setzt es in Gang, bange Vorahnung und Erwartung zwingen dazu, die Hohlräume auszufüllen, die sie entstehen lassen und vertiefen, etwas muß geschehen, wenn wir wollen, daß sich Angst verflüchtigt, und das beste ist es, dafür zu sorgen, daß sie sich erfüllt.’ (Zitat: Seite 20)

Morgen in der Schlacht denk an mich ist ein außergewöhnlicher Roman, sicher nicht für Jedermann, ein klein wenig gewöhnungsbedürftig, dafür aber überraschend, unterhaltsam, witzig, tiefgründig und sicher dürfte man lange daran denken, mitten in den Schlachten, die jeder schlägt, so am Morgen.


Javier Marias: Morgen in der Schlacht denk an mich

Aus dem Spanischen übersetzt von Carina von Enzenberg und Hartmut Zahn
© 1994 Javier Marias
Für die deutsche Ausgabe
© J.G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart 1998
Schutzumschlag: Dietrich Ebert



Mittwoch, 14. November 2012

Michael J. Sandel: Plädoyer gegen die Perfektion


Das Feuilleton der ZEIT machte vor kurzem groß mit Michael J. Sandel auf: Was ist ein gutes Leben? Sandel „lehrt Philosophie an der Universität Harvard, er ist berühmt für seine Vorlesung über Gerechtigkeit und seit ein paar Jahren der mediale Superstar unter den Philosophen der Welt“, heißt es in diesem Artikel.  Klar, daß ich nun neugierig geworden bin, denn bisher ging Sandel an mir vorbei.  Nun habe ich nicht sein neuestes Buch erwischst, sondern das Einzige, welches unsere Universitätsbibliothek Freihand hatte: Plädoyer gegen die Perfektion, aus dem Jahre 2008. Irgendwie nicht viel Auswahl in der Unibibliothek für einen Superstar unter den Philosophen. Um eine Ahnung davon zu bekommen, was ein Superstar unter den Philosophen so denkt und schreibt aber sollte es genügen.

Das Plädoyer gegen die Perfektion, Eine Ethik im Zeitalter der genetischen Technik, beleuchtet in fünf Kapiteln Problematiken, die sich aus der Stammzellforschung, der Eugenik, dem Schaffen von bionischen Athleten und dem entwerfen von Kindern der entwerfenden Eltern ergeben.  Dabei stellt Sandel das Für und Wider zunächst wertfrei gegenüber  und weißt auf mögliche Wirkungen und Folgen hin. Und das macht er für mich schlüssig, visionär und leicht verständlich. Das Plädoyer gegen die Perfektion ist  somit kein wissenschaftliches Fachbuch. Aber ein überaus wichtiges für unser Leben.

‚Vor einigen Jahren entschied ein Paar, daß es ein Kind haben wolle, vorzugsweise ein taubes. Beide Partner waren taub – und stolz darauf. Wie andere in der Gemeinschaft derer, die auf ihre Taubheit stolz sind, betrachteten Sharon Duchesneau und Candy McCullough Taubheit als kulturelle Identität, nicht als Behinderung, die es zu beheben galt. „Taub zu sein ist nichts weiter als eine Lebensform“, erklärte Duchesneau. „Wir fühlen uns als taube Menschen vollständig, und wir wollen die wunderbaren Seiten unserer tauben Gemeinschaft – ein Gefühl der Geborgenheit und der Verbundenheit – mit Kindern teilen. Wir sind ganz und gar davon überzeugt, daß wir als taube Menschen ein erfülltes Leben leben.“
In der Hoffnung, ein taubes Kind zu zeugen, wählten sie einen Samenspender, in dessen Familie seit fünf Generationen Taubheit auftritt. Und sie waren erfolgreich. Ihr Sohn Garvin wurde taub geboren.’ (Zitat: Seite 23)

(Eines vielleicht noch: Die Erste Auflage strotzt geradezu vor Druckfehlern.)


Michael J. Sandel: Plädoyer gegen die Perfektion

Aus dem Amerikanischen von Rudolf Teuwsen
Mit einem Vorwort von Jürgen Habermas
©  der deutschen Ausgabe: Berlin University Press 2008
Ausstattung und Umschlag: Groothius, Lohfert, Consorten | glcons.de