Samstag, 26. Oktober 2013

Marguerite Duras: Der Liebhaber


So liebe ich meine Nachmittage:  Ruhe, Füße hoch, Zigaretten, Kaffee, zwei Stück Torte -  nein heute kommt garantiert kein Besuch und das Telephon ist ausgeschaltet -  und dann ein Buch von höchsten zweihundert Seiten in der Hand. Marcel Reich-Ranicki wußte warum er immer sagte, ein Roman solle höchstens zweihundert Seiten haben.  In einem Zug durchlesen und abtauchen, abheben, wegtreten! Und ab dafür!

Marguerite Duras ist eine meiner Lieblingsschriftstellerinnen und wurde 1914 in Vietnam, dem damaligen Französisch-Indochina,  als Marguerite Donnadier geboren. Sie schrieb auch Drehbücher und  arbeitete auch als Filmregisseurin.  Sie starb im Alter von 82 Jahren am 3. März 1996 in Paris. Zwölf Jahre vorher, im Jahr 1984 erschien ihr bis heute erfolgreichster Roman „Der Liebhaber“.  Den passenden „Scheißfilm“ dazu gab es auch, vom sich Duras heftig distanzierte.

Die Geschichte ist ganz einfach: Eine alte Frau, die Icherzählerin, sie ist Schriftstellerin und wollte nie etwas anderes sein, betrachtet ihr Gesicht, welches sich im laufe ihrer Lebens verändert hat und gerät in Gedanken. Gedanken an ihre Kindheit, an Indochina, ihre Mutter, ihr Leben, ihre Brüder, an Paris, den Weltkrieg; verschiedne Orte zu verschiedenen Zeiten. 

Ach ja, da war noch der chinesische Liebhaber, den sie hatte, als sie fünfzehn Jahre alt war und der sie auch mal in Paris besuchte, mit seiner Frau und seinen Kindern, als sie schon eine Schriftstellerin war.

Wer den Film kennt, wird glauben, es ginge in diesem Roman nur um dieses kleine weiße fünfzehn jährige Mädchen als Prostituierte, ausgehalten von einem schmächtigen zwölf Jahre älteren Chinesen mit dem Geld seines Vaters.  In dem Roman sind das aber nur zwei größere Absätze, ziemlich am Anfang und ziemlich am Ende. Pornographen, die nun aufgrund dieses Filmes, es gibt tatsächlich eine pornographische Fassung, und die wird gelegentlich ab 23.00 Uhr heutzutage im Fernsehen gesendet, sich in diesem Roman viel viel mehr schlüpfriges erhoffen, werden enttäuscht und sollten beim Film bleiben. 

Ohne das es nun einen durchgängigen Erzählstrang gäbe, kann man teil haben an den Gedanken, Erinnerungen der Icherzählerin, die hin und her springen, wie es eben Gedanken zuweilen tun, die Zeiträume überbrücken, irgendwie miteinander verbunden sind und den nächsten Gedanken, die nächste Stimmung auslösen.

Natürlich ist da der chinesische Liebhaber in seiner schwarzen Limousine mit Chauffeur, als sie fünfzehneinhalb Jahre alt war, mit ihrem Männerhut auf, dem Seidenkleidchen, den goldenen Sandalen, alles Ladenhüter und billig, ja und sie dachte über Prostitution nach, die Familie war arm.  Sie  hält die Mutter für wahnsinnig, der Vater tot, der ältere Bruder ein lebenslanger Versager, der erst mit 50 seinen ersten Lohn als Laufbursche  bekommt. Da sind die Erinnerungen an den jüngeren Bruder, der bis zu seinem frühen Tod der einzige Verbündete der Icherzählerin war. Und so erinnert sie sich auch an ihre Mitschülerinnen in Französisch-Indochina, an ihre Bekannten in Paris.

Wie sie nach Paris gekommen war, erfährt man natürlich auch, und dabei taucht auch wieder dieser chinesische Liebhaber mit seiner schwarzen Limousine auf. Klar hatten die Sex. Klar hat er sie mit fünfzehneinhalb Jahren entjungfert und sie war seine weiße Hure für gut eineinhalb Jahre. Aber dazuwischen erzählt uns diese alte Frau eben doch ganz ganz viel mehr Anderes.  Ich erwähne nur am Rande den homoerotischen Moment, als sie sich an eine wunderschöne Mitschülerin erinnerte und begehrte.  Aber die beiden Mädchen hatten keinen Sex.

Nun, es ist nur ein „schmales“ Bändchen, in der Originalsgabe nur einhundert Seiten.  Großzügig gesetzt wurden einhundertvierundneunzig deutsche Seiten daraus.  Irgendwie muß ja der hohe deutsche Buchpreis gerechtfertig werden.

Aber mein Lesenachmittag, auch mit Gänsehaut, auch mit dem einen oder anderen Schmunzeln über die Duras, ja, ganz klar, die Duras ist bekannt für autobiographische Züge in ihren Roman,  ist nun über diese Lektüre zum Abend geworden.  Und was macht man nun mit dem angebrochenen Abend? Am besten einen Liebhaber suchen!


Marguerite Duras: Der Liebhaber

Aus dem Französischen von Ilma Rakusa
© 1985 Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main