Freitag, 19. Oktober 2012

Walter: Viktorianische Ausschweifungen


Das interessanteste an diesem Buch ist für mich das einleitende Essay von Steven Marcus. In diesem Essay untersucht und betrachtet Marcus den Text „My Secret Life“ der aus über 4.000 Seiten bestehenden Fassung, die hier in einer Auswahl von 320 Seiten pornographischen Textes vorgelegt sind. Walter ist das gewählte Pseudonym des bis heute unbekannten Verfassers, auch wenn es einige Spekulationen über den Verfasser gibt.  Das Essay von Steven Marcus ist aus dem Jahre 1979 und dem bei Suhrkamp erschienen Buch: „Umkehrung der Moral. Sexualität und Pornographie im viktorianischen England“ entnommen und wurde dieser  mir vorliegenden broschierten Sonderausgabe mit Texten von Walter, die 1997 bei Eichborn erschienen ist,  © Vito von Eichborn GmbH & Co. Verlag KG, vorangestellt.

„My Secret Life“ entstand  über vierzig Jahre hinweg im viktorianischen England, in dem dieser Unbekannte seine sexuellen Erfahrungen und Erlebnisse beschreibt, die er dann 1888 in angeblich sechs Exemplaren drucken ließ.  Der Verleger hat dann still und leise ein paar mehr gedruckt, und die Vermutungen reichen bis zu 25 Exemplaren.  Dieser Verfasser hat also so gut wie nichts anderes getan, als vierzig Jahre lang rumzuhuren, und rühmt sich selbst, keine Perversion ausgelassen zu haben und darüber zu schreiben. Das darüber Schreiben wurde ihm, wie Marcus darstellt, Teil seiner Obsession und Befriedigung.

Die Aspekte und die Bedeutung die Steven Marcus diesem „Werk“ beimißt, ist aber eine ganz andere: Die Informationen über den Zustand und die Zeit dieser viktorianischen Gesellschaft und die soziologische Bedeutung dieses Werkes.  Dabei stellt Steven Marcus eine interessante These auf: Er geht davon aus, das alle damaligen berühmten Autoren und der Großteil der Literatur dieser Epoche, zum einen von diesen Zuständen und Verhältnissen gewußt haben und zum andern beeinflußt wurde! So stellt Steven Marcus Textstellen der Weltliteratur den pornographischen Schilderungen Walters gegenüber, die zur gleichen Zeit in England entstanden sind und schlägt den Bogen sogar bis in die beginnende Moderne der Literatur wie von James Joyce.

„Man kann gegenüber einigen Einzelheiten dieser Episode durchaus skeptisch sein. Ich muß zugeben, daß auch ich einige Vorbehalte hatte, bis ich auf eine Passage bei Dickens stieß, welche die Beschreibungen in My Secret Life bestätigt.“ (Zitat Seite 79)

Diese Buch hier besteht also aus zwei Teilen: Dem Essay von Steven Marcus mit 119 Seiten und dann der Auswahl von 320 Seiten aus Walters „My Secret Life“

Der zweite Teil nun schildert Walters sexuelle Erlebnisse aus seiner Kindheit, seiner Jugend und seinem Alter. Ich bin mir jetzt nicht mehr sicher ob er es mit 1.000 Frauen oder 1.600 Frauen getrieben hat, und ehrlich gesagt habe ich keine Lust, das jetzt zu recherchieren. Ist vielleicht auch nicht so wichtig. Das pornographische Literatur auf Dauer keine Befriedigung bringt, hat Steven Marcus auch in seinem vorangestellten Essay erläutert, und dem kann ich, nachdem ich mir diese 320 Seite Pornographie reingezogen habe, nur beipflichten.  Walter war besessen von Mösen und pissenden Frauen und das alles lesen zu müssen, hat mich nicht gerade angemacht und wurde dann doch ziemlich langweilig. Das fing schon in seiner Kindheit und Jugend an, und auf den ersten 100 Seiten dieser Auswahl berichtet er hauptsächlich davon, bis er dann irgendwann seinen ersten Koitus mit einem Dienstmädchen hatte.  Interessant sind tatsächlich eben die Stellen, wenn er über die berichtet, mit denen er es getrieben hat in vierzig oder fünfzig Jahren (die genaue Zeit seiner Promiskuität habe ich auch vergessen und es ist ja auch egal ob er sich vierzig oder fünfzig Jahre vergnügt hat).

Wertvoll und bedeutend ist dieses Werk eben durch seine nachgewiesene Authentizität und Offenheit hinsichtlich der gesellschaftlichen und sozialen Verhältnisse sowie der möglichen Rückschlüssen und Deutungen, die sich auf die weitere zeitgleiche und folgende Literatur ergibt.  Und man erfährt, was berühmte Autoren wußten, andeuteten und verschlüsselten und sich teilweise eben nicht zu schreiben trauten.


Walter: Viktorianische Ausschweifungen

Übersetzt von Reinhard Kaiser
Mit einem Essay von Steven Marcus

Broschierte Sonderausgabe
© 1997 Vito von Eichborn GmbH & Co. Verlag KG, Frankfurt am Main
Essay von Steven Marcus aus
„Umkehrung der Moral. Sexualität und Pornographie im viktorianischen England“.
©  1979 Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main