1. Betrachtung
Zugegeben, das war
bisher meine anstrengendste Lesearbeit und ich fühle mich nach dieser
einerseits erleichtert, andererseits, platt ausgedrückt, „matschig“! Dafür gibt
es einige gute Gründe, die ich im weiteren Verlauf meiner Betrachtungen zu
diesem Buch noch ausführen werde. Die Hauptursache: man kann dieses Buch auf
mehrfache, ja fast schon auf vielfältige Weise lesen. Wieland machte dem
Begriff des „poeta doctus“ seiner Zeit alle Ehre. Ich bin ja der Ansicht, er
hat es durchaus darauf angelegt und sich IMHO zuweilen einen Spaß daraus
gemacht, in dem er kohärente Sätze von unglaublicher Länge produzierte, die zu
verstehen heute teilweise die Benutzung unterschiedlichster Wörterbücher
verschiedenster wissenschaftlicher Disziplinen wahrscheinlich macht. Hinzu
kommt die sekundäre Dunkelheit, die Geschichte des Agathon hat Wieland mehrmalig
in verschiedenen Fassungen, 1766/1767 erstmalig, veröffentlicht.
Eine anstrengende
Lesearbeit kann es also sein, lässt man sich auf mögliche Leseweisen ein. Ich
schlage da schon mal die philosophische, die geschichtswissenschaftliche, die
literaturwissenschaftliche, die soziologische, die psychologische und natürlich
besonders in der heutigen Zeit die kulturwissenschaftliche Brille vor. Alles
Bereiche die Wieland mit diesem Roman bedient, und das sind nicht alle. Er
selbst, um das vorweg zu nehmen, nannte seinen Agathon einen philosophischen
Roman. Zu Wielands Bedauern erkannte aber wohl keiner seiner Zeitgenossen was
das heißt, immerhin wurden von der ersten Fassung in zwanzig Jahren rund 1000
Exemplare verkauft und Wieland wusste sehr genau, wer den Agathon gekauft hat
und wer von denen ihn vermutlich gelesen hatte. Damals war es üblich, die Werke
der „Kollegen“ zu lesen. Und Goethe las, lobte dezent und hielt sich ansonsten aber
bedeckt. In seinen Briefen beklagte Wieland, mit anderen Worten, von Keinem
verstanden zu sein. Aber zur Rezeptionsgeschichte später mehr.
Der Deutsche
Klassiker Verlag spricht nun auf dem Einband der mir vorliegenden Ausgabe von
einer „Wiederentdeckung“. Da werde ich dann immer hellhörig und lese genau hin,
wenn es dann noch heißt, „Anfang und Vorbild des modernen deutschen Romans in
einer sorgfältig edierten und umfassend kommentierten Ausgabe. (Noch ein Grund,
rechtschaffend „matschig“ zu sein).
Was mich nebenbei wunderte,
diese Dünndruck-Ausgabe im Taschenbuchformat von insgesamt 1156 Seiten hat
tatsächlich gehalten! Also physisch! Der Buchrücken hat ein paar Falten
bekommen, ist aber nicht gebrochen, alle Blätter nun mit Knitterfalten und
mehrfarbigen Unterstreichungen sind noch immer fest, obwohl ich nicht gerade
pfleglich mit diesem Band umgegangen bin, im Gegenteil. Eine kleine
Enttäuschung sind für mich die Varianten der Textes, die ich in dieser Edition
nicht vergleichen kann. Diesbezüglich spricht der Kommentar von „Eindrücken“,
die man vermitteln wollte, was nun ganz und gar nichts wert ist, als eben nur
eine Ahnung von was auch immer. Es ist nun mal keine historisch-kritische
Ausgabe, aber meine Betrachtungen hier sind ja auch keine wissenschaftliche
Abhandlung.
Die 1156 Seiten dieser
hier vorliegenden Ausgabe von Text und Kommentar, teilen sich wie folgt auf:
Text erste Fassung 1766/67, S. 9-556; Anhang: Synoptische Übersicht, Zusätze,
Ergänzungen von 1773, 1794 und 1800, S. 557-796; Kommentar, S. 797-1114,
Register, S. 1115-1148; Inhaltsverzeichnis, S. 1149-1156. Damit dürften also
schon mal einige mögliche Leserinnen und Leser abgeschreckt sein.
Kleiner Hinweis für
diejenigen, die nur am Text interessiert sein sollten: Suchmaschine; es gibt frei
verfügbare kostenlose und kostengünstige Online- und PDF-fassungen. Inwieweit
die zitierfähig sind, muss dann geprüft werden.
Soweit meine erste
Betrachtung, die mehr den äußeren Umständen und meinem Zustand nach der
Lesearbeit galt. In der zweiten Betrachtung geht es dann um den Inhalt dieses
von Wieland philosophisch genannten Romans. Die meisten Leser zu Wieland
Lebzeiten, hielten ihn für sittlich Anstößig. Einer der ersten Leserbriefe an
Wieland endete mit der Schilderung einer Erektion des Rezipienten beim Lesen. Was
waren das für Zeiten: Gothe konnte damals nicht mal das Licht im Zuschauerraum
seines Theaters ausmachen, weil die Leute das Knutschen und Fummeln anfingen.
Christoph Martin
Wieland: Geschichte des Agathon
Herausgegeben von
Klaus Manger
© Deutscher Klassiker
Verlag, Berlin
2010
Umschlag-Abbildung:
Christoph Martin Wieland (1733-1813).
Ölgemälde von Georg
Oswald May, 1779.
Original:
Wieland-Museum Biberach.